Donnerstag, 2. März 2006

01 - Eine Schiffsfahrt, die ist lustig

Girbil von Aristan, Gelehrter, Zauberkundiger und Forscher war mit seinen nun schon 347 Jahren kein junger Kobold mehr, im Gegenteil. Dennoch drängte es ihn immer noch, neue Expeditionen auszurüsten und neue Gebiete Jassallas, der gebrochenen Welt, zu erkunden.

Sein Drang nach Ruhm und Abenteuer hätte ihn schon manches Mal um Kopf und Kragen gebracht, so dass er auf seinen Ruf als Experte für Geographie und Geschichte Jassallas mit Fug und Recht stolz sein durfte.

Eine weitere Expedition wollte er nun starten, diesmal im Zeichen des Kennenlernens der verschiedenen Völker der Welt. Aus diesem Grund hatte er in einigen der Zeitungen Stellen ausschreiben lassen sowie in der Universität von Varnûm Anfragen an einige der Dozenten gestellt. Zahlreiche hatten sich beworben, doch letztlich war der Kreis auf vier Personen geschrumpft. Jeder von ihnen genoss einen gewissen Ruf in seinem oder ihrem jeweiligen Bereich und Girbil war zuversichtlich, eine fähige Gruppe um sich geschart zu haben.

Am Morgen des 14. März 437 nach dem Ende war es schließlich so weit: Die Reise sollte beginnen. Lediglich zwei der Forscher sollten schon in Varnûm an Bord kommen, der Rest würde sie auf dem Festland erwarten.

Nehelian genoss einen zwiespältigen Ruf an der Universität: Seine Sprachlehrer priesen ihn ob seines Talents, neue Sprachen scheinbar im Vorbeigehen zu erlernen. Seine Mitstudenten achteten ihn ob seiner raschen Auffassungsgabe und seiner enormen Trinkfestigkeit. Die Frauen himmelten ihn an, wenn er abends in den Tavernen seine Lieder schmetterte, um später mit einigen von ihnen zu verschwinden...
Sich für ihn zu entscheiden hatte Girbil einige Überwindung gekostet, doch letztlich würden sie jemanden benötigen, der in der Lage war, rasch neue Sprachen zu lernen, um so mit den Völkern, auf die sie stoßen würden, in Kontakt zu kommen.

Nun stand er auf dem Hafengelände, auf dem schon seit Stunden emsiger Betrieb herrschte. Schiffe wurden be- und entladen, Befehle gebrüllt und die Luft war erfüllt vom Duft einsamer Matrosen.
„Irgendwo muss es hier doch...“ murmelte er in sich hinein, während er Gassen von Häusern abging und um eine Ecke bog...
„Aha!“ Vor ihm erstreckte sich, was er gesucht hatte: Die Lustmeile des Hafens. Da standen Kobolde, Zwerginnen, Orkweibchen, Menschenfrauen und alle Arten von Mutanten in freizügiger Kleidung an den Mauern, jede von ihnen mit einem kessen Spruch auf den Lippen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ein Lächeln trat in sein Gesicht, als er durch die Gasse schritt, einer attraktiven Orkin mit smaragdener Haut und elfenbeinfarbenen Hauern einen Kuss auf die Lippen hauchte und sich schließlich auf den Weg machte.
„Pier 8... Das muss hier doch irgendwo sein...“

Kulin Fantök, ihres Zeichens Ethnologin, konnte auf beachtliche Erfolge im Gebiet der Erforschung fremder Arten zurückblicken. Jahre hatte sie beim Volk der Waldgeister verbracht, es studiert und schließlich auch darüber promoviert. Nun kam dieser Auftrag für eine Expedition gerade recht...
Neugierig stieg sie auf Björn, ihren treuen Hund, und ritt durch den Hafen. Gerade erst hatte ein Luftschiff sie von Tiristan, ihrer Heimatstadt, nach Varnûm gebracht.
Es war das erste Mal, dass sie das „Herz der Zivilisation“ sah, wenn auch nur kurz. Wehmütig blickte sie auf die Straßen, die von Wesen aller Art nur so wimmelten und ritt dann zu einem Wesen, dass grob humanoide Formen aufwies, allerdings eher den Eindruck erweckte, zahlreiche Ranken hätten sich hier geformt, um einen Körper zu bilden.
„Verzeiht, doch ich bin auf der Suche nach Pier 8. Könnt ihr mir wohl den Weg weisen?“
Das Wesen nickte und deutete mit einem Rankenarm in Richtung eines Dreimasters, bevor es sich in windenden Bewegungen ein Fass unter jeden Arm klemmte und davonstapfte.

Kurze Zeit später waren die beiden an Pier 8 angekommen. Vor ihnen lag eine mittelgroße Himmelsbarke. Das Schiff maß etwa siebzehn Meter in der Länge und sieben Meter in der Breite. Die drei Masten ragten viele Meter in die Höhe, die Segel waren noch gerefft und an Deck herrschte reger Betrieb. Das Schiff selbst bestand aus einem dunklen Holz, das am Bug in die Figur einer wunderschönen Frau auslief, deren weiße Flügel sich ausgebreitet nach hinten streckten.
Ein kunstvolles Schild an der Seite wies darauf hin, dass es sich hier um die „Traumfänger“ handelte.

Etwas unschlüssig ritt Kulin schließlich die Planke hinauf. Nehelian folgte ihr kurz darauf – auch er musste schließlich auf das Schiff, was auch immer diese Koboldin darauf wollte...
An Bord sahen sie, wie eine hünenhafte Gestalt Befehle brüllte, während ein kleiner, verhutzelter Mann hin und her rannte und immer wieder besorgt nach den Kisten sah. Schließlich bemerkte er sie und eilte zu ihnen. Verdrossen sah der alte Kobold zu ihnen auf und schimpfe los:
„„Wer seid ihr denn schon wieder? Hach, wenn es doch noch irgendwelche Götter gäbe, auf die man jetzt schimpfen könnte! Nichts, aber auch gar nichts läuft heute richtig. Erst liefern sie die Kisten nicht, jetzt räumen sie sie herum wie die Verrückten und der da“
Mit einem Finger wies er auf eine große Gestalt, die zur Gänze aus Eisen zu bestehen schien, sonst aber wohl mehr oder weniger menschlich war.
„hat sogar die Kiste mit den Probeflaschen fallen lassen! Es ist unglaublich, wirklich unglaublich!
Also, was wollt ihr?“
Verwirrt zeigten zuerst Kulin, dann Nehelian ihre Expeditionsbestätigungen. Girbil nickte leicht und reckte sich zu seiner vollen Größe – fast erreichte er einen ganzen Meter.
„Erlaubt erst einmal, mich vorzustellen. Ich bin Girbil von Aristan, höchster Gelehrter der Kobolde, weltberühmter Forscher und Spezialist für die Geschichte der Gebrochenen Welt.“
Schließlich musterte er Kulin und nickte dann anerkennend:
„Sehr schön, jemanden dabei zu haben, der die richtige Größe hat, Kindchen. Freut mich immer, wenn junge Kobolde sich die Hörner abstoßen wollen. Ihr habt über die Waldgeister geschrieben, wie ich eurer Bewerbung entnehmen konnte? Sehr schön, sehr schön...“
Dann runzelte Girbil die Stirn und wandte sich Nehelian zu:
„Von euch habe ich schon einiges gehört. Sowohl positiv wie auch negativ. Positiv zu erwähnen wären die Geschichten über eure bemerkenswerten sprachlichen Fähigkeiten. Negativ allerdings erinnere ich mich da an gewisse Ereignisse mit einer Taverne im Nordviertel und einem Feuer... Sowie andere Geschichten, die meist mit Frauen und Schnaps zu tun hatten...“

Nachdem Koboldin und Mensch an Bord waren, gingen beide an die Reling. Der Himmel zeigte sich von seiner besten Seite: Ein strahlendes Blau, unterbrochen von einigen gelben, grünen und purpurnen Flecken, an denen magische Hintergrundstrahlung wirkte. Die Traumfänger legte ab und glitt elegant aus dem Hafen in die freie Luft.
Nehelian blickte herunter zu Kulin
„Ein interessantes Reittier habt ihr da... Sicher ist es schwieriger zu handhaben als ein Pferd... Aber im Kampf ist so ein Hund sicher besser geeignet.“
„Ich habe nie ein Pferd geritten, aber Björn ist im Kampf auch keine Hilfe – ich habe es ihm nie beigebracht...“ einen Moment überlegt sie „Glaubt ihr, dass wir viele fremde Völker treffen werden und Gelegenheit finden, sie zu erforschen?“
Nehelian lachte und nahm einen Schluck Bier
„Ich bin auf der Suche nach Abenteuer. Der Duft der großen weiten Welt, könnt ihr ihn riechen? Ich denke, neue Völker lernt man in Tavernen am Besten kennen... Zwerge zum Beispiel...“
„Aber viele Völker haben doch gar keinen Zugang zu Tavernen... Geschweige denn zu Alkohol...“
Die Augen des Barden weiteten sich schockiert
„Kein Alkohol? Bei Sune! Alkohol ist das Wasser des Lebens! Ich habe viele Semester damit verbracht, Alchemie zu studieren und mich dabei besonders auf das Brennen von Alkohol spezialisiert. Sollten wir auf so ein Volk treffen, kann ich den armen Leuten vielleicht helfen...“

Nach kurzer Zeit gesellte sich Girbil zu ihnen, um einen Rundgang durch das Schiff anzubieten.
Zunächst führte er sie ans Heck, wo ein breitschultriger Mann mit vernarbtem, wettergegerbten Gesicht das Steuerrad in Händen hielt. Über dem Leinenhemd trug er eine rote Wollweste, die bis zu den Schenkeln reichte, die in einer dunkelbraunen Lederhose steckten. An seinem Gürtel baumelte ein Säbel und kräftige Füße in ausgetretenen Stulpenstiefeln stemmten sich in den Boden.
„Das ist Kapitän Jonas, auch „Traumfänger“ genannt. Bei Gelegenheit solltet ihr euch die Geschichte vielleicht erzählen lassen...“
meinte Girbil. Jonas nickte
„Schön, euch endlich an Bord zu haben Kinder. Wenn ihr Fragen habt, stellt sie besser meinem ersten Maat, dem kleinen Hans Aargh, da hinten“
Mit einer Hand wies er zum nächstgelegenen Mast, wo eine hünenhafte Gestalt gerade damit beschäftigt war, mehrere Matrosen anzuschreien und einen Schiffsjungen durchzurütteln. Soweit Nehelian und Kulin das ausmachen konnten, war der „kleine“ Hans etwa drei Meter groß. Gräulich-blaue Haut spannte sich bis zum Zerreißen über stahlharte Muskeln, die gleichmäßig auf vier Arme verteilt waren. Die Geräusche, die der durchgeschüttelte Schiffsjunge von sich gab, erklärten auch schnell seinen Nachnamen...

Der Kobold führte sie unter Deck und zeigte ihnen zunächst die Gemeinschaftskajüte – sechs Hängematten. Kulin erhob die Stimme
„Sechs? Wir sind nur zu zweit... erwarten uns also noch andere Teilnehmer der Expedition?“
Girbil nickte
„In Wilderhafen werden wir drei weitere Mitglieder treffen. Bis dahin habt ihr diese Kajüte für euch...“
Die drei gingen weiter, in den Lagerraum. Dieser war vollgestellt mit Kisten verschiedener Größe, in einer Ecke lagen viele Meter Seil aufgerollt und in einer anderen Ecke schließlich fand Kulin einen Platz für ihren Hund. Sie band ihn an, stellte einen Topf dazu und murmelte einige Worte über ihn, woraufhin sich das Gefäß mit klarem Wasser füllte.

Schließlich führte Girbil sie zu einer Wand, die ganz aus einem schwarzen Metall bestand. In ihrer Mitte befand sich etwas, das an die Umrisse einer Tür erinnerte. Davor stand eine hagere Gestalt, gehüllt in eine dunkelblaue Robe, deren Kapuze das gesamte Gesicht der Gestalt verdeckte.
„Das ist Nawiellan-“
„Nav'iila!“ murrte die Gestalt
„Navilla, genau... (Seufzen) Sie ist die Schiffsmagierin, also zeigt ihr etwas Respekt... Und ich will jetzt keinen Mucks hören!“
Die Gestalt hob die Hände und schob die Kapuze zurück. Ein Zopf bläulich-schwarzen Haares fiel über die Schulter und die Kapuze enthüllte ein schmales, hübsches und etwas blasses Gesicht. Ein leichtes, bläuliches Schimmern ging von der Haut der Frau aus, die Augen funkelten im reinsten saphirblau. Es wirkte, als wäre sie ein lebender Kristall, ein Eindruck, der durch den ovalen Saphir, der in ihrer Stirn eingebettet lag, noch verstärkt wurde. Doch erst jetzt sahen Kulin und Nehelian, was sie wirklich erschreckte: Die Ohren dieser Frau waren spitz! Die beiden jungen Forscher schwiegen für einen Moment schockiert, dann schlug Nehelians Geschichtswissen durch
„Eine Elfe... Ihr seid eine Khariil, nicht wahr?“
Die Zauberin nickte und der Mann neigte sich zu Kulin hinunter:
„Die Khariil waren ein Volk von Elfen, dass im Krieg zu keiner der beiden verfeindeten Parteien gehörte. Sie lehnten die weitflächige Zerstörung ab und mühten sich stattdessen, sich selbst und auch Angehörige anderer Völker zu schützen. Soweit ich weiß nannte man sie früher 'Goldelfen'. Sie lebten in den Bergen und als die Welt schließlich zerstört wurde verbanden sich die Körper der Goldelfen mit dem Gestein, das sie umgab. Sie alle sind mehr oder weniger steinern, daher stammt auch ihr neuer Name 'Khariil'. Das heißt in etwa so viel wie 'Kristallvolk'.“
Nav'iila nickte erneut und zeigte sich etwas erstaunt, als Nehelian sie anschließend freundlich auf Altelfisch begrüßte:
„Es ist lange her, dass ich die Sprache der Alten auf der Zunge eines Fremden vernahm... Nun jedoch möchte ich euch bitten, diese Stiefel dort anzuziehen, damit ich euch zeigen kann, worum Girbil mich bat.“

Alle drei taten wie geheißen und als die Stiefel saßen trat die Schiffsmagierin an die Tür und zeichnete ein Symbol darauf, dessen Bedeutung den anderen unbekannt blieb. Es leuchtete kurz auf, dann schwang die Tür geräuschlos auf und ein Gefühl der Leichtigkeit machte sich im Magen der Gruppe breit als sie in die Kammer der Levitationskristalle traten. Schon spürten sie die Kraft der Magie in diesem Raum, die sich redlich bemühte, sie in die Luft zu erheben. Kulin hielt tapfer ihren Hut fest, während Nav'iila die Funktionsweise der Kristalle erklärte.
Der Raum war recht kahl – eine Kammer, ganz ausgekleidet mit dem schwarzen Metall und an verschiedenen Stellen bedeckt mit Öffnungen, um die herum arkane Zeichen in die Oberfläche geätzt waren. In der Mitte des Raumes stand eine Gruppe Kristalle auf einem Podest. Das Gestein glänzte purpurn und auch auf diesem großen Artefakt waren Zeichen zu sehen, die jedoch weder Nehelian noch Kulin zu deuten vermochten.
„Diese Kristalle halten das Schiff in der Luft. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie immer genügend Energie zur Verfügung haben, denn andernfalls würde uns ein unangenehmer Flug mehrere hundert Meter in die Tiefe bevorstehen. Und unter uns ist nur der Ozean...
Die Kristalle halten das Schiff allerdings nur auf einer Höhe, gesteuert wird es über die Segel und das Ruder, wie andere Schiffe auch.“

Nach dieser interessanten Erklärung gingen Nehelian und Kulin wieder an Deck – der Aufenthalt in dem Levitationsfeld hatte beiden einen Hauch von Seekrankheit beschert. Während sie an der Reling standen und in ihre Gespräche vertieft waren beobachteten sie die Wind-Drachlinge, die dem Schiff in Schwärmen folgten.
An dieser Stelle ist dem geneigten Leser vielleicht nicht klar, was denn ein Wind-Drachling sein mag: Es handelt sich um eine kleinere Abart der Drachen, die durch die Zerstörung der Welt entstand. Anstelle von Vorderbeinen haben diese nur knapp anderthalb Meter langen Wesen ein zweites Flügelpaar. Ihre Haut ist bedeckt von Chitinschuppen in einem so reinen Weiß, dass die Kreaturen zu schimmern scheinen. Alle vier Flügel erinnern auf Distanz eher an Engel als an Drachen: Sie wirken gefiedert. Betrachtet man sie aber von nahem bemerkt man, dass auch die Flügel aus den gleichen weißen Schuppen bestehen, die sich wie Gefieder übereinander lagern und so eine gute Tragfläche bilden. Wind-Drachlinge ernähren sich von Vögeln, von Schiffen geworfenen Nahrungsresten und ab und an auch Matrosen, die sich in einem Sturm nicht halten konnten. Dennoch gelten sie als gutes Omen, wenn sie einem Schiff folgen und einige der Windleute glauben, dass tote Matrosen als Drachlinge wiedergeboren werden.

Währenddessen war es Abend geworden und Kapitän Jonas trat zu ihnen
„Na Kinder? Hört mal, auf meinem Schiff gibt es eine Regel: Jeden Abend kann jeder trinken, soviel er nur kann – auf meine Kosten! Und ihr seid natürlich auch eingeladen. Ist das ein Angebot?“
Kulin verblieb skeptisch, während Nehelian schon längst auf dem Weg zum Rest der Mannschaft war...
„Wer schützt denn das Schiff? Wer lenkt es? Wenn nachts alle betrunken sind?“
Jonas zwinkerte nur und machte sich auch auf dem Weg zum Trinkgelage. Mit einem Seufzen folgte die Koboldin ihm, mit dem festen Vorsatz „Nicht zu viel“ zu trinken.
Der Abend war ausgelassen – selbst Girbil und der Kapitän tranken mit und Kulin wurde schließlich von Nehelian in ihre Kajüte getragen...

Der nächste Morgen war vor allem für Nehelian eine Überraschung: Kein Kater! Während er sich ein Guten-Morgen Bier öffnete murmelte er „Das Rezept muss ich haben...“ und weckte Kulin.
Während der Mann auf Deck ging, wollte die Koboldin zunächst einmal nach ihrem Hund sehen...

Sie fand Björn in die Ecke gekauert und ängstlich winselnd. Etwas musste dem Hund in der Nacht einen unglaublichen Schrecken eingejagt haben. Während Kulin ihren treuen Gefährten liebkoste und kraulte überlegte sie, was ihn nur so verschreckt haben könnte...

An Deck fand Nehelian schon bald Nav'iila, die Schiffsmagierin, die gerade an der Gallionsfigur arbeitete – was genau, das konnte der Barde nicht sehen.
„Einen guten Morgen“ grüßte er sie auf Altelfisch
Die Elfe sah auf. Wie schon am Vortag waren auf ihrem hübschen Antlitz keinerlei Emotionen abzulesen
„Guten Morgen... Wie ich hörte habt ihr gestern mit der Mannschaft ein Wetttrinken veranstaltet?“
Nehelian grinste: Sein Ruf eilte ihm voraus
„Ja... Das ist ein toller Rum, den euer Kapitän da verteilt... All die Flaschen und kein Kater! Wie funktioniert das? Und warum?“
Nav'iila runzelte die Stirn, als müsse sie einem Kind etwas erklären
„Wenn hier jeden Tag die ganze Mannschaft mit schwerem Schädel und roten Augen herumlaufen würde, dann wären wir nicht gerade in der Lage, dieses Schiff zu manövrieren, nicht wahr?“
„Das ist richtig, aber warum finanziert der Kapitän überhaupt jeden Abend so ein Trinkgelage?“

Währenddessen war Kulin mit Björn an Deck gekommen – in der Annahme, das Tier sei seekrank und bräuchte nur etwas frische Luft. Als der Hund den Kapitän sah, versteckte es sich rasch hinter seiner Herrin (anders gesagt: Es stellt sich hinter sie und hoffte, trotz erheblich mehr Masse nicht wahrgenommen zu werden). Verwirrt blickte Kulin zu Kapitän Jonas, dann zu Björn und entschied, dass es zunächst einmal Zeit für ein Frühstück für den Hund und sie selbst wäre...

„Denkt einmal nach, wenn man sturzbetrunken ist und schläft, was tut man dann nicht? Gerade ihr müsstet das doch wissen...“
Nehelian überlegte einige Zeit und murmelte dann
„Träumen...“
„Ganz richtig. Speziell bekommt man keine Alpträume...“
„Hmmm... Das Schiff heißt Traumfänger, hat es etwas damit zu tun? Ihr kennt dieses Schiff sicher sehr gut, was für ein Geheimnis birgt es?“
Die Schiffsmagierin zog eine Augenbraue hoch
„Das Schiff hieß nicht immer Traumfänger... Ich durchsegle auf diesem Schiff schon seit zweihundert Jahren die Welt. Früher nannte man es noch 'Schwanensegel'.“
„Hmmm... Ihr meint also, dass Kapitän Jonas es umtaufen ließ? Er trägt auch den Namen Traumfänger... Warum?“
Nav'iila seufzte leise und musterte den jungen Mann dann eingehend
„Es gibt niemanden, der in der Zerstörung der Welt nicht verändert wurde. Selbst die Zwerge, auch wenn sie natürlich anderes behaupten, sind anders, als sie es vor dem Ende der Welt waren. Ihr Menschen seid oft recht glimpflich davongekommen... Seht euch an, Nehelian: Kaum etwas lässt erkennen, dass ihr mutiert seid. Oder besser gesagt: Ihr seht aus, wie heutzutage normale Menschen nun einmal aussehen.
Der Kapitän ist anders. Man sieht ihm seine Mutation nicht an, das ist sein Glück, aber in ihm... schlummert etwas. Das ist der Grund, warum er die Welt durchsegelt. Das ist der Grund, warum seine Mannschaft jede Nacht betrunken ist – betrunken sein muss. Er ist der Traumfänger...“
Nehelian wirkte schockiert
„Und was ist mit euch? Ich sah euch gestern nicht beim Rest der Mannschaft...“
„Ich schlafe nicht. Wir Khariil sind zum Teil Kristalle, wie ihr das eurer Kollegin so schön erklärt habt. In der Nacht lege ich einen Schild um das Schiff und achte darauf, dass es nicht vom Kurs abkommt... Währenddessen habe ich in der Regel genügend Zeit für meine eigenen Studien.“
Der Barde nickte noch einmal und verabschiedete sich dann mit einer altelfischen Dankesfloskel von Nav'iila, die sich wieder der Gallionsfigur zuwandte, während der Mann sich auf die Suche nach einem Frühstück machte...

Etwa zeitgleich trafen Kulin, Björn und Nehelian vor der Kombüse ein. Verwunderte deutete der Barde auf den Hund
„Was hat er denn?“
„Irgendetwas muss ihn furchtbar erschreckt haben. Er lag zitternd in seiner Ecke und als wir auf Deck waren versteckte er sich vor dem Kapitän... Etwas seltsames geht auf diesem Schiff vor.“
Nehelian nickte
„Die Elfe erzählte mir etwas beunruhigendes... Sie sagte, dass der Kapitän mutiert sei und er ein Traumfänger wäre. Das er die Mannschaft jeden Abend trinken ließe, damit sie keine Träume hätten... Kannst du dir einen Reim darauf machen?“
Kulin runzelte die Stirn, man sah ihr an, dass die Völkerkundlerin durchbrach
„Traumfänger... In manchen Kulturen sind es Gegenstände, die angeblich die schlechten Träume von den Schlafenden fernhalten sollen... In anderen Kulturen jedoch sind Traumfänger böse Geister, die den Schlafenden ihre schönen Träume stehlen und sie durch Alpträume ersetzen...“
„Dann muss der Kapitän so ein böser Geist sein! Aber scheinbar möchte er nicht, dass jemand an Bord träumt... Wir sollten Björn heute Abend einen kräftigen Schluck geben, damit er auch Ruhe hat... Jetzt habe ich aber erstmal Hunger.“

Und damit öffneten sie die Tür zur Kombüse. Eine große, kräftig gebaute Gestalt mit vier dürren Armen stand vor einem Herd und kochte gerade irgendetwas, während ein ältlicher Kobold in einer anderen Ecke auf einem Hocker stand und Gemüse hackte. Als die Tür aufging wandte der große Kerl sich halb um, drehte den Kopf erst zur Seite und dann auf dem Kopf. Die Facettenaugen, die Fühler und auch das Exoskelett machten recht deutlich, dass es sich hier um ein Insektenwesen handelte.
„Morgen Mädels, was kann ich denn für euch tun?“
Nehelian erhob als erster die Stimme
„Wir haben Hunger, was könnt ihr dagegen tun?“
Der Koch kratzte sich mit einem Arm am Kinn, während er mit einem anderen Salz in den Topf streute, mit dem nächsten Arm umrührte und mit dem vierten Arm den Topf hielt
„Naja, ich hab' Haferbrei, Brot, Suppe, Wind-Drachling und vielleicht auch ein bisschen Schwein...“
Der Barde verzog das Gesicht, nahm eine Schüssel Haferbrei entgegen, für die er noch einige Stücken Obst bekam, als er fragte und verzog sich nach draußen. Nun war Kulin an der Reihe
„Hättet ihr einige Knochen mit Fleisch daran für meinen Hund? Und ich probiere den Wind-Drachling“
„'türlich... Ganz schön tapfer, Kleine...“
Er gab ihr einen Knochen mit einer guten Portion Fleisch und einen Teller mit drei Streifen leuchtend rotem, gebratenem Fleisch und einem Laib Brot dazu. Den Knochen warf sie Björn hin, dann probierte sie unter den aufmerksamen Augen Nehelians von dem Drachling.
Noch nie hatte sie etwas vergleichbar scharfes gegessen. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Verlangen, laut zu schreien und sofort stopfte sie sich den Brotlaib in den Mund. Als der letzte Bissen ihre Kehle hinabrutschte fühlte sie sich etwas besser.
„Ich hab es ja gleich gesagt: Drachen... brrrrr...“
Mit den Resten ihres Wind-Drachlings ging sie zurück in die Kombüse
„Wer isst so etwas nur?!“
Wieder kratzte sich der Koch
„Och, der kleine Hans isst regelmäßig Wind-Drachling zum Frühstück... Der Kapitän probiert sich alle paar Monate wieder daran und ein, zwei der Matrosen versuchen es auch immer wieder... Ist eine Spezialität, die du nur auf Schiffen mit einem ordentlichen Smutje wie mir bekommen wirst.“

Der Tag verlief eher ereignislos, bis schließlich am Nachmittag ein großer Bolzen das Deck der Traumfänger durchbohrte. Nehelian und Kulin, die gerade an Deck waren, starrten erschrocken in die Wolken. Aus den grünlichen Schwaden (ein magisches Feld hatte dort scheinbar Wolkenform angenommen) senkte sich eine alte, oft geflickte und scheinbar recht brüchige Himmelsbarke herab und ging längs der Traumfänger. An Bord sahen der Barde und die Klerikerin einen Haufen widerwärtiger Mutanten sowie eine in schwarze Roben gekleidete Gestalt und ein... Ding, das scheinbar nur aus grünen, schleimigen Tentakeln bestand. Auf beiden Schiffen wurden Befehle gebrüllt und Säbel gezogen. Girbil kam an Bord und stellte sich zu Nav'iila, die bereits erste Zauber vorbereitete. Die Matrosen kamen an Bord und der kleine Hans Aargh, der gerade einen Matrosen hinter einem Stapel Fässer hervorzerrte, zog zwei große Krummsäbel. Kapitän Jonas rief „Macht euch bereit!“, zog ebenfalls seinen Säbel und wappnete sich gegen den Angriff.

Die Piraten stürmten das Schiff, zwei von ihnen stürzten sich auf den kleinen Hans, der sich dem Ansturm tapfer entgegenstellte. Den ersten packte der riesige Mutant mit seinen zwei freien Armen, zerbrach ihn wie einen Zweig und warf ihn fort – der zweite Pirat war daraufhin so geschockt, dass er seinen Säbel fallenließ, der sich in den Fuß des Mannes bohrte.
Kulin wehrte mit ihrer Armbrust einige angreifende Piraten ab, während Nehelian auf seiner Laute ein Lied schmetterte, welches die Moral der Matrosen anhob – es war ein Heldenlied, dass er beim Saufgelage des abends bereits gespielt hatte und so packten alle ihre Klingen fester.
Der Kampf zwischen den Piraten und den Matrosen entbrannte und es war klar, dass die Lufträuber trotz des Liedes im Vorteil waren. Zwei rasche Zauber Nav'iilas und Girbils lösten dieses Problem:
Girbil grinste schelmisch und schnippte mit den Fingern, um sechs der Freibeuter in schreckliche Lachkrämpfe zu schleudern, erzeugte Nav'iila eine Illusion, die vier weitere Piraten voller Panik fliehen und über die Reling springen ließ. Die übrigen Piraten lieferten sich eine Schlacht mit den Matrosen, die dieses Namens würdig war. Zornig kam nun auch der Piratenkapitän an Bord der Traumfänger – gefolgt von dem Monster, das sich mit seinen Tentakeln an einem Enterseil herüberhangelte.
Der Piratenmagier begann nun seine Beschwörung. Er murmelte düstere Zauberformeln, rötliches Licht flackerte zwischen seinen Händen auf und... erzeugte eine kleine Rauchwolke. Fluchend stampfte der Zauberer mit dem Fuß auf und machte sich an seine nächste Formel.
Während Hans Aargh sich durch die Reihen der Piraten mähte umfing das magische Feld der Wolke allerdings auch die Traumfänger – Nav'iilas nächster Zauber jagte eine Schockwelle über das Schiff, die Kapitän Jonas, den kleinen Hans, sie selbst und einige Matrosen lähmte, während Girbil mit einem „VERDAMMT!“ und einem leisen „Plopp“ zu einem Eichhörnchen wurde.
Der Piratenkapitän lachte hämisch, als das Monster ebenfalls an Bord kam und auf Nehelian und Kulin zuwalzte. Ein flehentlicher Blick trat in Kulins Augen, als sie die Hände faltete und murmelte „Das ist nicht gerecht... Schenke mir den Ausgleich!“

Ein dünner Nebel wallte auf, fast wie ein Portal, und mit donnernden Hufen kam die Antwort auf Kulins Gebet: Ein schneeweißer, riesiger Bison trampelte dem Monster entgegen und rammte seinen Schädel in die schleimige Masse.

Währenddessen war die Starre von Hans, Jonas und Nav'iila gewichen, doch auch die Lachkrämpfe der Piraten hatten nachgelassen. Sie kicherten nur noch ein wenig, als sie sich taumelnd ihren Kameraden hinzugesellten...
Jonas lieferte sich ein Duell mit dem Piratenkapitän, Hans stürzte sich (auf dem Weg zwei Piraten fällend) auf das Monster, während Nav'iila aus ihren Fingerspitzen einen gleißenden und sengenden Blitzstrahl in die Tentakelmasse schickte. Der widerwärtige Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft, doch die Bestie schien davon unbeeindruckt.
„Verfluchter Gorak!“ knurrte die Elfe, als sie die Hände schon zum nächsten Zauber hob – diesmal knisterte der Blitz auf den Piratenzauberer und verdampfte ihn zu einer wirbelnden Wolke aus Asche.
Während Hans mit seinen Krummsäbeln den Gorak ins Jenseits beförderte verwandelte sich auch Girbil wieder zurück. Wutentbrannt schimpfte der Kobold auf die Welt im Allgemeinen und klatschte in die Hände: Der Piratenkapitän, der ein Stück von Jonas zurückgewichen war und sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt, hörte ein Geräusch über sich und blickte gerade noch rechtzeitig nach oben, um zu sehen, wie eine riesige Geisterhand auf ihn niederkrachte und ihn zermalmte.

Die restlichen Piraten waren ebenfalls geschlagen, zahlreiche Matrosen hatten bei dem Kampf ihr Leben lassen müssen, doch hatten sie Geistesgegenwart bewiesen und einen Gefangenen gemacht: Der schmutzige, menschliche Pirat lag gefesselt auf dem Boden und fluchte, während die verbleibende Mannschaft auf Befehl ihres Kapitäns das Piratenschiff plünderte. Nachdem auch das erledigt war, setzte Nav'iila den alten Kahn mit einem weiteren Zauber in Brand – wie ein Phönix stürzte die Himmelsbarke langsam vom Himmel, als die Levitationskristalle ihre Energie verloren.
An Bord des Piratenschiffes hatten die Matrosen neben einer mehr schlecht als Recht gefüllten Truhe mit Münzen auch ein Schreiben gefunden, dass sie ihrem Kapitän aushändigten...

[Daniel]

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